Dehnen ist Glaubenssache: Die einen schwören darauf, die anderen halten sich eher zurück. Dabei sollen durch Stretching drei wichtige Dinge erreicht werden. Erstens soll Dehnen vor dem Sport die Leistung steigern. Zweitens sollen Verletzungen vermieden werden und drittens soll Stretching die Regeneration des Sportlers fördern. Diese Annahmen beruhten auf Alltagstheorien und Beobachtungen in der Praxis. Erst in den letzten Jahren wurden die Effekte von Dehnungen auf die sportliche Leistungsfähigkeit, Verletzungsprophylaxe sowie die Regeneration untersucht. Die Ergebnisse sind erstaunlich.

Dehnen direkt vor sportlicher Tätigkeit in Schnell- und Maximalkraftsportarten soll laut Alltagstheorie zu Leistungssteigerungen führen. Dies stimmt nicht. Dehnen führt zu keiner Leistungssteigerung in Sportarten, die schnell- und maximalkräftige Leistungen abfordern (beispielsweise Sprünge, Sprint, Kugelstoß). Direkt nach Dehnungen kommt es zur Abnahme der Leistungsfähigkeit. Der Leistungsabfall ist direkt nach statischen Dehnungen besonders stark ausgeprägt (- zwei Prozent bis - 23,2 Prozent). Für den Leistungsabfall kommen verschiedene Ursachen in Betracht; meist ist eine Kombination mehrerer Faktoren verantwortlich. In Frage kommen die psychische Entspannung nach statischer Dehnung (mentale Effekte, Formatio reticularis), visko-elastische Verformungen des Bindegewebes durch statisches Dehnen (Stressrelaxation) und Reduktion der neuromuskulären Reflexe (eher unwahrscheinlich). Es empfiehlt sich daher zweierlei: Man soll kein statisches Dehnen der Sprung- und Maximalkraft entwickelnden Muskeln direkt vor dem Training und Wettkampf machen, sondern ein allgemeines und spezielles Aufwärmen durchführen. Muskeln aber, die in erster Linie für die Beweglichkeit verantwortlich und für die Wettkampfleistung bestimmend sind, sollten gedehnt werden (zum Beispiel beim Hochsprung: Hüftbeugemuskulatur, Bauch- und Zwischenrippenmuskulatur).

Seit Jahren wird angenommen, dass Dehnen vor und nach sportlicher Tätigkeit dazu beträgt, dass sich Sportler weniger häufig verletzen (Verletzungsprophylaxe). Mittlerweile gibt es eine große Zahl von Untersuchungen, die belegen, dass Dehnungen zu keiner Reduktion der Verletzungshäufigkeit führen. In manchen Studien wird gar eine erhöhte Verletzungsrate durch Dehnungen festgestellt. Einschränkend muss gesagt werden, dass nicht alle Studien zur Thematik hohen wissenschaftlichen Standards genügen und nur wenige Studien vorliegen, die sich auf Sportarten beziehen. Man muss auch unterscheiden, zu welchem Zeitpunkt Verletzungen eintreten. Meist - beispielsweise im Fußball - treten die Verletzungen gegen Ende des Wettkampfes auf. Dies kann als Hinweis auf die folgenden beiden Ursachen gewertet werden: Es handelt sich entweder um die belastungsbedingte Ermüdung biologischer Materialien (Materialermüdung) oder eine zentralnervöse und periphere Ermüdung (Mangel an Koordination).

Deshalb sollten Dehnungen nicht von Trainern verordnet, sondern in Absprache mit den Athleten geplant werden. Athleten sollten in Dehnungstechniken geschult werden, jedoch sollte über die Anwendung von Dehnungen aufgrund eigener Reflexionen (der Athleten) entschieden werden. Bei Sportarten, die schnellkräftige Bewegungen in endgradige Gelenkwinkelpositionen erfordern (zum Beispiel Handball - Schultergelenk; Kickboxing - Hüftgelenk) sollte dem Training und Wettkampf ein kurzes, eher dynamisches Dehnen vorgeschaltet werden. Aufwärmen und koordinatives Training haben laut neueren Befunden einen bedeutsamen Einfluss auf die Verletzungsinzidenz, Dehnungen hingegen nicht.

Dehnen nach sportlicher Belastung fördert die muskuläre Regeneration, heißt es. Aber auch das ist unwahr. Dehnungen führen zu keiner beschleunigten muskulären Regeneration. Statische Dehnungen führen in Dehnstellungen zur Kompression der Blutgefäße in der Muskulatur. Zur muskulären Regeneration wird jedoch eine optimale Blutversorgung der Muskelzellen benötigt. Es kommt daher zur Verzögerung der muskulären Regeneration. Es empfiehlt sich daher, direkt nach intensiven, mit Säurebildung (Laktat) verbundenen sportlichen Belastungen nicht zu dehnen. Besonders statische Dehnungen sind zu vermeiden. Nach wenig intensiven Belastungen, beispielweise Jogging, kann der Sportler sich dehnen. Es ist zwar keine beschleunigte physiologische Regeneration, jedoch eine psychologische Entspannung (Regeneration) zu erwarten.


Quelle: Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin/DTU-Info 2004


Stretching: Flexibel, biegsam, schnell H. L. 01/2011

Neben Kraft und Koordination entscheidet die Beweglichkeit darüber, wie schnell man sich vorwärts bewegt. Mit diesen Methoden zur Muskeldehnung kann man seine Leistung deutlich verbessern.

Heftiger denn je entbrannte in den 90er-Jahren unter Sportwissenschaftlern eine Debatte über Wert und Form des Dehnens. Die Anhänger des aktiven Stretchings mittels schwingend-wippender Dehnungsübungen argumentierten hartnäckig gegen die Befürworter des statischen Dehnens. Über ein Jahrzehnt wurden die Vor- und Nachteile diskutiert, untersucht und erneut bewertet. Mit dem (vorläufigen) Ergebnis, dass wohl beide Methoden ihre Berechtigung haben.

Neun Minuten schneller

Weitgehende Einigkeit besteht jedenfalls in der Feststellung, dass eine flexible Muskulatur in Ausdauersportarten, die durch die vielfache Wiederholung gleichförmiger Bewegungsabläufe gekennzeichnet sind, erhebliche Vorteile mit sich bringt. Spart man bei jedem Zyklus nur ein wenig Energie, weil die inaktive Muskulatur der Gegenseite nicht die Bewegung bremst, wird man bei gleichem Kraftaufwand – beispielsweise durch eine größere Schrittlänge – eine höhere Geschwindigkeit erreichen. Beispiel eines Marathonläufers: Bei einem Lauf von 3:30 Stunden und einer Schrittfrequenz von 180 Bodenkontakten pro Minute absolviert er insgesamt 37.800 Schritte. Wenn er seine Schrittlänge durch mehr Flexibilität um nur fünf Zentimeter vergrößern könnte, würde ihm das theoretisch zu einer eindrucksvollen Zeitersparnis von neun Minuten verhelfen.

In der Sportwissenschaft versteht man unter dem Begriff des Dehnens, dass mittels gezielter Übungen die Strecke zwischen Muskelursprung und -ansatz vergrößert und der Muskel-Sehnen-­Apparat damit in die Länge gezogen wird. Dies geschieht durch die Auseinanderbewegung beweglicher Eiweißbrücken innerhalb der Muskelfaser. Da die Muskeln des Bewegungsapparats – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer über mindestens ein Gelenk hinwegreichen, bestimmt ihre Länge auch das Bewegungsausmaß dieses Gelenks. Verkürzte Muskeln bedeuten demzufolge eine Einschränkung der Gelenkbeugung und können somit die Bewegung hemmen. Zudem steigt die Verletzungsgefahr, wenn ein verkürzter Muskel durch eine schnelle und kraftvolle Bewegung über sein aktuelles Längenmaß hinaus gedehnt wird. Muskelzerrungen oder gar Faserrisse können die Folge sein. Deutlich wird der Zusammenhang, wenn man sportliche Bewegungen analysiert. Man versuche doch mal, einen Ball sehr weit zu werfen. Man kann dabei beobachten, dass bei der Ausholbewegung den Arm weit nach hinten bewegt wird und die Muskulatur von Schulter und Körpervorderseite weit vordehnen, um den Ball weit hinauszuschleudern. Je weiter man den Wurfarm nach hinten bewegen kann, desto länger wird die Strecke, auf der man den Arm beim Werfen beschleunigen kann – der Ball fliegt weiter!

Dehnen: Das sollte beachtet werden
Der Zugewinn an Flexiblität hängt von der Regelmäßigkeit des Trainings ab. Dreimal pro Woche jeweils rund zehn Minuten für die Dehnübungen sinnvoll.

Dynamisches Dehnen   Statisches Dehnen
Dehne vor dem Sport. Dehne nach dem Sport.
Kombiniere dynamisches Dehnen mit leichten Aufwärmübungen. Lasse nach Belastungsende ruhig etwas Zeit vergehen, bis das Dehnen beginnen kann.
Beginne mit langsamen, kontrollierten Schwingbewegungen. Schaffe eine beruhigende Atmosphäre.
Vermeide reißende und zerrende Bewegungen. Kombiniere das statische Dehnen mit Entspannungsmethoden (Sauna, Bäder).
Gehe niemals über die Schmerzgrenze hinaus. Gehe niemals über die Schmerzgrenze hinaus.
Übungsdauer: 2 x (20-30 Sekunden) Übungsdauer: 3 x (10 Sekunden pro Übung und Seite)

Wie Turnvater Jahn?

Doch zurück zu den Theorien des korrekten Dehnens. Die aus der Gymnastik des Turnvaters Jahn stammenden wippenden Bewegungen wurden von den Experten in den 80er-Jahren als verletzungsfördernd betrachtet. Zudem stellte man fest, dass im Muskel bei einer plötzlichen Dehnung, zum Beispiel durch wippende Bewegungen, ein eigener Schutzmechanismus aktiviert wird, der ihn sofort wieder kontrahieren (zusammenziehen) lässt. So gesehen schien das Ergebnis des dynamischen Dehnens eher kontraproduktiv.

Dieser Schutzmechanismus lässt sich Untersuchungen von Sven Sölveborn und Karl-Peter Knebel aus den frühen 80er-Jahren zufolge durch langsame, behutsame oder sogar statische Dehnungsübungen in der maximalen Dehnungsposition ausschalten. Diese Form des Dehnens führt über neuronale Mechanismen sogar zu einem deutlichen Abfall der Muskelspannung – der Relaxation oder sogenannten Detonisierung. Das Ziel schien erreicht, die Idee des Stretchings war geboren. Dynamisches und schwingendes Dehnen wurde als altmodisch betrachtet. Klaus Wiemann (1991) und Georg ­Wydra (1997) konnten in jahrelangen Untersuchungen jedoch klären, dass weder die eine noch die andere Dehnungsmethode zu bevorzugen sei. Vielmehr besäße jede Methode ihren eigenen sinnvollen Einsatzzweck: Eine gedehnte, flexible Muskulatur ist leistungsfähiger, doch wäre der Abfall der Muskelspannung (Tonus) beispielsweise vor einem Wettkampf eher ein Nachteil. Stretching würde die Leistung also negativ beeinflussen, weil der Muskel danach zu wenig Grundspannung besäße. Dynamisches Dehnen mit kurzen Kontraktionen, zumal noch in einer wettkampfähnlichen Bewegung ausgeführt, würde den Muskel in einen sehr guten Vorstartzustand versetzen. Die Jahrtausendwende brachte schließlich das einvernehmliche Ende der langjährigen und kontroversen Diskussion. Vor einer sportlichen Betätigung sei es demzufolge sehr viel effizienter, mittels dynamischer Bewegungen den Muskel in einen vorgedehnten und aktivierten Zustand zu versetzen. Wenn man sich vor einem Wettkampf aufwärmt, sollte man also ruhig leichte schwingende Bewegungen ausführen. Damit erhöht sich die Durchblutung und die Temperatur in den Muskeln und Gelenken und bringt das „System“ auf Touren. So konnte Andreas Klee 1999 nachweisen, dass schon wenige Dehnbewegungen genügen, um die Bewegungsreichweite um 8 bis 15 Prozent zu erhöhen.

Abwärmen, dann dehnen

Das statische Dehnen in gehaltenen Stretchingpositionen gilt wegen seiner spannungsreduzierenden Wirkung vor allem in der Nachbereitung sportlicher Belastungen als sinnvoll. Langzeituntersuchungen von Geoffrey Goldspink den 90er-Jahren zeigten, dass regelmäßiges statisches Dehnen zu strukturellen Längenveränderungen im Muskel führt. So bildeten sich sogar neue Eiweißbrücken im Gewebe, die zu einer messbaren Verlängerung des Muskels führten. Langfristig betrachtet und für zyklische Ausdauerleistungen relevant kann dies zu einer Verbesserung der Schrittlänge beim Laufen und der Bewegungsreichweite beim Schwimmen führen. Doch nicht immer sollte man sofort nach dem Sport mit dem Stretching beginnen. Besonders nach hochintensiven Belastungen, die von hohen Krafteinsätzen bestimmt wurden, sollte man einige Zeit vergehen lassen. Da der Muskel dann eine maximale Anzahl an Muskelfasern rekrutiert und folglich viele Brückenbildungen innerhalb des Gewebes entstehen, kommt es zu einer Anhäufung von Stoffwechselzwischenprodukten wie zum Beispiel Laktat. Dann sollte man zunächst ein ruhiges Abwärmen (Ausfahren, -laufen oder -schwimmen) durchführen oder sogar regenerative Maßnahmen wie Bäder, Sauna oder Cooling ergreifen, bevor man Stretchingübungen durchführt. Damit unterstützt man die Wirkung des Trainings und kann sich schon mental auf die nächsten Aufgaben einstimmen.

 

 

Exzentrisches Training vs. klassisches Dehnen

Läufer: 5 wichtige Dehnübungen (Videos)

 

Portal