Fortsetzung: Vorfußlaufen - Die Technik der Profis

Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Das Vorfußlaufen ist wie eingangs bemerkt sicher eine Bewegungsart, die vornehmlich bei forciertem Lauftempo zur Anwendung kommt. Sie unterscheidet sich in einigen Punkten wesentlich vom Bild des "klassischen" Fersen- oder Rückfußläufers. Es sollen deshalb zunächst beide Laufstile gegenüber gestellt werden.
Der gewichtigste Unterschied zwischen beiden Techniken ist die Tatsache, dass beim Vorfußlaufen mit der Wadenmuskulatur ein weiterer Dämpfungsmechanismus zur Verfügung steht, der sich beim Fersenlaufen nicht findet. Die Wadenmuskulatur arbeitet hier wie ein Zügel für die Ferse, die ja keinen Kontakt zum Untergrund hat: Die Druckbelastung wird sanft abgefangen und wirkt nicht schlagartig wie beim Aufprall der Ferse beim Rückfußläufer. Außerdem ist die Phase vom Bodenkontakt bis zum Einsetzen der Pronation verlängert. Die Muskulatur ist somit bei Gewichtsbelastung des Fußes schon vorgespannt und in der Lage, die Pronation aktiv zu kontrollieren (M. tibialis posterior, M. flexor hallucis longus). Dieser Effekt ist beim Rückfußlaufen weitestgehend erloschen.
Die Schuhindustrie hat dieses Phänomen derweil auch entdeckt und verarbeitet Dämpfungsmaterialien zunehmend auf der Außenkante des Rückfußes, um die Zeit zwischen Aufprall und Eindrehen des Fußes zu verlängern und so der Muskulatur mehr Zeit zum Anspannen zu gewähren. Eine Verlängerung dieser Zeit ist so sicher gegeben, aber die Überpronation lässt sich durch das Vorfußlaufen wesentlich effektiver korrigieren.
Zur Rolle der Wadenmuskulatur, die beim Vorfußlaufen ja den größten Teil des Körpergewichtes trägt, ist zu bemerken, dass sie mit einem Kraftanteil von über 80 % der stärkste Supinator im Sprunggelenk ist und somit ebenfalls verstärkte Pronationstendenzen korrigieren kann. Dies ist beim Fersenläufer nicht der Fall, da die Wadenmuskulatur (M. triceps surae) beim Aufprall der Ferse nicht vorgespannt ist. Der Fersenläufer "missbraucht" aus diesen Gründen die Innenbänder seines Sprunggelenkes für diese Aufgabe. Können diese der Belastung nicht mehr standhalten, resultiert das in einer Überpronation.
Die Vorfußlauftechnik ist aus den genannten Gründen durch geringere Stoßbelastung von Wirbelsäule und Gelenken gekennzeichnet und zusätzlich in der Lage, Fehlbelastung der Innenbänder des Sprunggelenkes und zahlreiche andere Probleme, die durch Überpronation bedingt sind, zu vermindern.

Natürlicher Bewegungsablauf
Einen verstärkten körpereigenen Dämpfungsmechanismus und eine bessere muskuläre Kontrolle der Pronation - diese Vorteile nutzt jeder von uns! Jeder? Ja. Beim Barfußlaufen. Läuft man barfuß, beispielsweise auf Rasen oder am Strand, so ist der Körper gezwungen, sich dieser Dämpfung zu bedienen, da das septierte Fettpolster unter der Ferse, welches beim Gehen für eine ausreichende Stoßdämpfung sorgt, nicht mehr ausreicht. Um sich vor zu großen Stößen und Schmerzen zu schützen schaltet er quasi automatisch auf das Vorfußlaufen um. Diesen Effekt kann jeder bei sich nach einer kurzen Gewöhnungszeit feststellen - ein Beweis dafür, dass es sich hier um den natürlichsten Laufstil handelt.
Der Grund für die Angewohnheit fast aller Läufer, trotzdem über die Ferse abzurollen, ist im Schuhwerk zu suchen. Mit teilweise skurrilen technischen Entwicklungen vom Luftkissen bis zu Gel- und Neoprenpolstern in modernen Sportschuhen wurde diese Passivität im Laufstil erst ermöglicht und die eigene, interne Dämpfung des Bewegungsapparates entbehrlich. Ein wahrscheinlich nicht nur unter dem Aspekt der verlorengegangenen Pronationskontrolle zweifelhafter Fortschritt, denn ob starke Dämpfung wirklich vor Verletzungen schützt, ist nach wie vor höchst zweifelhaft...
Die Schuhe nehmen uns also Arbeit ab. Tut sich hier also doch noch ein Vorteil des Fersenlaufens auf, etwa durch eine Energieersparnis durch verminderte Arbeit der Waden? Energie, die der Läufer vielleicht auf den letzten Kilometern eines Wettkampfes gut brauchen könnte? Fehlanzeige! Neben der verlorengegangenen Pronationskontrolle zeigt sich auch hier bei genauer Betrachtung letztendlich ein Vorteil des Vorfußlaufens.

Viele Läufer bremsen sich selbst aus
Ohne sich allzu weit in die Biomechanik zu vertiefen, fällt folgendes auf: Beim Rückfußläufer zeigt die Ferse in der Aufsatzphase eine der Abstoßbewegung entgegengesetzte Bewegungsrichtung. Viele Läufer fallen ja regelrecht in ihren Schritt und erzeugen so eine "Bremsarbeit". Im Vorfußlaufstil erfolgt der Bodenkontakt des Fußes hingegen in einer Phase, in der die hintere Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur bereits eine Zugbewegung des Beines ausübt. Diese Muskelgruppen können so wesentlich effektiver eingesetzt werden, da sich der Fuß beim Aufsetzen schon wieder in der Bewegungsrichtung für die Zugarbeit und den folgenden Abstoß befindet. Es gibt hier nur wenig "Bremsarbeit".
Die bessere Wirkungsweise der hinteren Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur sowie die verringerte Abstoppbewegung in der Aufsatzphase sind wohl der Hauptgrund für die eingangs erwähnte Personengruppe, um auf dem Vorfuß ihre Medaillen zu erkämpfen und eben nicht auf dem Rückfuß. Auch bei eingefleischten Rückfußläufern stellt sich eine Tendenz zum Vorfußlaufen übrigens spätestens bei einem schnellen Sprint ein. Dieses Bewegungsmuster ist also bei hohem Tempo eindeutig das effizientere.
Temposteigerung ist für ambitionierte Athleten also durchaus ein Motiv, die Technik umzustellen. Aber wenigstens genauso interessant ist dieses Thema für Athleten mit zu starken Pronationstendenzen (Hyperpronation), die eventuell an sekundär entstandenen Überlastungsschäden leiden. Sie haben hier eine interessante Möglichkeit, ihre "körpereigenen Pronationsstützen" zu reaktivieren.

Vorfußlaufen kann man lernen
Und wie lernt man es nun, das Vorfußlaufen? Eigentlich muss man es ja gar nicht lernen. Nach einer Weile Barfußlaufen stellt sich dieser Bewegungsvorgang langsam aber sicher selbst wieder ein. Schwierig wird es nur, das ganze auch im Laufschuh auf der Straße oder im Wald umzusetzen. Hierfür ist spezielles Training und mit Sicherheit etwas Geduld erforderlich.
Da die Wade beim Vorfußlaufen das Körpergewicht trägt, kommt ihr eine Schlüsselrolle zu. Ihre Krafteigenschaften entscheiden im wesentlichen darüber, ob man diese Technik umsetzen kann oder nicht. Für Neulinge ist also hier meist ein spezielles Krafttraining des dreiköpfigen Wadenmuskels (M. triceps surae) erforderlich. Hierbei sollte nicht vergessen werden, dass die Wade auch einen eingelenkigen Anteil in Form des Schollenmuskels (M. soleus) hat, der bei gebeugtem Kniegelenk verstärkt trainiert wird. Es ist also dafür Sorge zu tragen, dass nicht nur der Zwillingswadenmuskel (M. gastrocnemius) trainiert wird, welcher bei gestrecktem Knie verstärkt in Aktion tritt.
Diese Unterscheidung hat gute Gründe: So besteht der Schollenmuskel (M. soleus) zu einem viel größeren Anteil aus roten, ausdauernden Muskelfasern. Er ist also der Haltemuskel von beiden, wohingegen der Zwillingswadenmuskel (M. gastrocnemius) vermehrt weiße, schnelle Kraftfasern enthält. Auf die hohen Ausdauerbelastung des Vorfußlaufens ist also der Schollenmuskel (M. soleus) besser ausgelegt. Er sollte an diese neue Belastung jedoch mit entsprechender Vorsicht herangeführt werden.
Aus dem geänderten Bewegungsablauf ergibt sich, wie eingangs erläutert, eine verstärkte Pronationskontrolle durch Muskelkraft. Zu diesen Muskeln zählt besonders der lange Großzehenbeuger (M. flexor hallucis longus), der neben seiner namensgebenden Funktion auch die Pronation als Unterfänger des Fersenbeins (am Sustentaculum tali) stark kontrolliert. Ein Training der Fußmuskeln empfiehlt sich hier also ganz besonders (wie eigentlich für jeden Läufer). Dies ist beispielsweise mit Handtuchgreifübungen möglich. Barfußgehen auf natürlichem Untergrund (tiefer Sand) zeigt ebenfalls gute Effekte.
Die hintere Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur sollte für die verlangte Zugbewegung trainiert werden. Seilspringen ist hier eine Möglichkeit, die gesamte Streckerkette der unteren Extremität zu kräftigen. Kniebeugen und diverse ähnliche Übungen (eventuell im Fitnessstudio) sind ebenfalls gut geeignet.
Koordinationsübungen, die eigentlich auch für jeden Läufer anzuraten sind, der seiner "klassischen Technik" treu bleiben möchte, nehmen auch beim Umstellen auf das Vorfußlaufen einen wichtigen Stellenwert ein: Nahezu alle Formen des Lauf-ABCs, insbesondere Sprungübungen, die die Streckerkette kräftigen, sind anzuraten. Es empfiehlt sich, auch dieses Training barfuß zu absolvieren.

So schafft man also die Basis und kann nun beginnen, mit zunehmender Dauer auf dem Rasen (Fußballplatz) oder am Strand barfuß zu laufen. Bald wird man feststellen, dass dies mit fortschreitender Übung immer flüssiger vonstatten geht. Zurück in den Laufschuhen stößt man dann jedoch oft auf Probleme - Probleme, die auf eben jenes Ausrüstungsstück zurückzuführen sind. Viele Laufschuhe sind so gearbeitet, dass sie eine Vorfußlauftechnik fast im Keim ersticken. Es gilt deshalb bei der Schuhwahl auf folgendes zu achten:

  • Durch das Verdrehen des Rückfußes gegen den Vorfuß nach dem Aufsetzen wird vom Schuh eine ausreichende Torsionsmöglichkeit verlangt. Bietet er diese nicht, weil er beispielsweise mit einem geraden Leisten versehen ist, so kann das neue Bewegungsmuster nicht ausreichend umgesetzt werden, weil es ja auf der Verdrehung von Vor- und Rückfuß aufbaut.
  • Ferner sind sehr starke Pronationsstützen auch schwer mit diesem Stil zu vereinbaren, da Flexibilität im Zuge der aktiven Pronationskontrolle ruhig gewährt werden kann und der Fuß nicht in eine unnatürliche Haltung gezwungen werden soll. Die eindrehende Ferse schwebt ja praktisch aufgehängt an der Muskulatur, gut gesichert über dem Boden. In der Lernphase oder bei längeren Strecken, wo die Ferse wieder stärker absinkt, können mäßige Stützen aber immer noch sinnvoll sein.
  • Man wird zusätzlich feststellen, dass die Passform im Vorfuß einen völlig neuen Stellenwert gewinnt. Während beim Aufsetzten mit dem Rückfuß bei ausreichender Fersenstabilität eine weite Vorfußbox als nicht störend (wenn nicht sogar angenehm) empfunden wird, so ist beim Vorfußlaufen die Anforderung eine neue: Hier erfolgt die Belastung zuerst im Vor- und Mittelfußbereich. Ein "Schwimmen" des Fußes im zu weiten Schuh führt zu Problemen und wird als störend empfunden.

Einen Schuh zu finden, der ausreichende Torsion zulässt, eine ausreichend enge Passform im Vorfuß hat und eine angemessene Pronationsstütze besitzt, ist auf dem heutigen Laufschuhmarkt gerade für Läufer mit schmalen Füßen mitunter kein ganz leichtes Unterfangen. Ein Problem bleibt Ihnen beim Schuhkauf in Zukunft jedoch weitestgehend erspart: Die Dämpfung. Die besorgen sie mit Ihrer neuen Lauftechnik nämlich zum größten Teil selbst!
Ein häufiges Einstiegsbeschwerdebild, das in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, ist die Reizung der Großzehenbeugesehne (M. flexor hallucis longus). Es wurde bereits erklärt, dass dieser Muskel eine wesentliche Kontrolle der Pronation übernimmt. Nach eventuell jahrelanger verminderter Aktivität ist dieser Muskel ähnlich wie die Wade zunächst oft leicht überfordert. Die Sehne schmerzt dann am Innenknöchel oder unter der Fußsohle entlang ihres Verlaufs. Ähnliches gilt für den hinteren Schienbeinmuskel (M. tibialis posterior), welcher entlang seines Verlaufs am Innenknöchel gereizt werden kann. Es gilt deshalb die Belastung langsam zu steigern und ausreichende Pausen einzulegen, um auch der Achillessehne und den anderen Strukturen die Umstellung zu ermöglichen. Es sei angemerkt, dass Probleme mit der Wadenmuskulatur und eine gesteigerte Tendenz zur Achillessehnenentzündung oft mit mangelnder Kraft der Waden und unzureichender technischer Umsetzung bei Vorfußläufern verknüpft ist.
Eine Kontraindikation für das Vorfußlaufen stellen jedoch in vielen Fällen Spreizfußbeschwerden da. Läufer, die schon beim Rückfußlaufen Probleme mit der Belastung des eingesunkenen Quergewölbes haben, werden die Stoßbelastungen des Vorfußlaufens in diesem sensiblen Areal mit großer Wahrscheinlichkeit nicht tolerieren. Es verbleiben mit Sicherheit noch weitere Läufer, für die das Vorfußlaufen nur eingeschränkt zu empfehlen ist. Bei höherem Körpergewicht ist es oftmals schwer möglich, ausreichende Kraftwerte in den Waden zu erreichen, um einen sauberen Vorfußlaufstil umzusetzen. Aber eben der oben erwähnte Triathlet Jürgen Zäck hat mit Sicherheit bewiesen, dass man keine 50 Kilogramm leicht sein muss, um es zu schaffen. Der Einwand gilt jedoch trotz dessen.
Auch für einen verletzungsfreien, lustbetonten Läufer, der wenig Zeit für sein Training hat, ist das Verhältnis von Aufwand und Nutzen wahrscheinlich wenig lohnend. Für die, die es trotzdem versuchen wollen sei eines gewiss: Mit einigem Aufwand ist die Sache auf jeden Fall verbunden. Es wir mit Sicherheit viel Schweiß fließen und es werden einige Wochen vergehen, bis sich erste Erfolge einstellen. Aber ist der Einstieg einmal geschafft, läuft es sich bestimmt viel leichter und unbeschwerter. Vielleicht sogar so unbeschwert, wie es bei Haile Gebrselassie immer aussieht ...

 

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