Muskelanpassung: In der Ruhe liegt die Kraft
S. Kräftner/ tri2b 2005
Der
Zusammenhang wie sich die Arbeitsmuskulatur an gesteigerte Belastung
anpasst und dabei Muskelwachstum initiiert ist höchst komplex. Das Thema
bietet eine spannende Debatte wie und ob ein Muskel überhaupt jemals seine
Belastungsgrenze erreicht.
Jede
Muskelfaser ist über eine Nervenzelle (Motorneuron) mit dem zentralen
Nervensystem verbunden und von Bindegewebe umgeben. Der Muskel als
funktionelle Einheit besteht aus einer Muskelfaser, einer Nervenzelle,
einer Bindegewebehülle und einem dichten Gefäßnetz, ebenfalls eine
Grundvoraussetzung für eine intakte Muskelfunktion. Mehrere
Muskelfasern werden durch Bindegewebe zu Bündeln zusammengefasst. Das
Bindegewebe ist für einen funktionierenden Muskel von ebenso großer
Bedeutung wie die Muskelzellen, denn nur durch das Bindegewebe kann eine
koordinierte Übertragung der Kontraktionen auf Knochen und Gelenke
erfolgen. Erkrankungen und Überbelastungen in diesem Bereich können ebenso
wie Muskelverletzungen zu Beeinträchtigungen der Leistung und zu Schmerzen
führen.
Muskelfasern
bilden somit eine komplexe funktionelle Einheit, in der einige Kunststücke
vollbracht werden müssen. Einmal muss ein mechanischer Reiz in einen
biochemischen verwandelt werden, der eine Kontraktion der Muskelfaser
auslöst. Die Kontraktion ist prinzipiell ein Gleitmechanismus, bei dem die
dicken Myosinfilamente über die dünnen Actinfilamente gleiten. Diese
Kontraktion muss koordiniert und in ausreichend vielen Muskelfasern
erfolgen, damit sich äußerlich sichtbar über Sehnen und Gelenke Bewegung
und Kraft entfalten.
Aus
Schaden wird der Muskel klug Dieses mechanische Geschehen soll im
Training möglichst so zurückübersetzt werden, dass als Nettoergebnis die
Proteinsynthese initiiert wird, die für den Muskelaufbau und die Anpassung
des Muskels an erhöhte Anforderungen unbedingt erforderlich ist. Ähnlich
wie beim Nervengewebe so war man auch beim Muskelgewebe lange der Ansicht,
dass es nicht regenerieren könne. Das hätte allerdings zur Folge, dass das
Training ohne Erfolg bleiben müsste. Muskelzellen regenerieren jedoch sehr
wohl. Sie passen sich auch gesteigerten Anforderungen an, allerdings
verläuft dieser Prozess langsam und ist nur durch jahrelanges, oft
mühevolles Training zu erreichen. Hört man mit dem Training völlig auf,
bilden sich die meisten Trainingseffekte leider wieder zurück.
Jeder
Trainingseffekt beginnt mit zellulären Schäden, die durch die mechanische
Muskelbelastung entstehen, sowie einer gewissen Störung des Stoffwechsels.
Dadurch werden Prozesse der Stoffwechselanpassung, der Transportsysteme,
die zelluläre Reparaturfähigkeit und Proteinsynthese eingeleitet. Die
Anpassungsleistungen durch Ausdauertraining sind eine erhöhte
Auswurfleistung des Herzens und eine erhöhte Sauerstoffextraktion. Die
Sauerstoffaufnahme durch das Gewebe wird verbessert. Zudem kommt es zu
einigen strukturellen und metabolischen Veränderungen im Muskel. Training
verbessert die durch Insulin vermittelte Durchblutung des Muskels und die
Glukoseaufnahme durch den Muskel. Die Kapazität des Muskels alternative
Energieträger als Ersatz für Glukose zu nutzen steigt. Pyruvate
(Bruchstücke von Kohlenhydraten), Fettsäuren und Ketonkörper (in der Leber
gebildete Verbindungen, die in Hungerzeiten vermehrt verstoffwechselt
werden) können leichter verbrannt werden, da die in den Mitochondrien
dafür notwenigen Enzymspiegel ansteigen. Als Folge des Trainings kommt es
im Zusammenhang mit diesen Veränderungen auch zu einer Verschiebung von
schnellen leicht ermüdbaren Typ-II-Muskelfasern zu langsameren gegen
Müdigkeit resistenten Typ-I-Fasern.
Muskelanpassung durch Mikroverletzungen Mittlerweile
setzt sich in der Wissenschaft vermehrt das Modell durch, dass
Muskelwachstum nur initiiert wird, wenn Verletzungen, seien sie auch noch
so klein, in den Muskelfasern vorliegen. Ausdauertraining geht immer mit
zahllosen Mikromuskelfaserverletzungen einher. Allein die mechanische
Belastung des Muskels führt zu Mikroläsionen der Muskelfasern, aber auch
Durchblutungsstörungen, Temperaturschwankungen, pH-Wert-Verschiebungen
oder die Anhäufung freier Sauerstoffradikale. Der Anstieg der
Creatinkinase und des Myoglobins im Serum ist ein Hinweis für das Ausmaß
der Muskelfaserverletzungen.
Ab- und Aufbau
greifen Hand in Hand
Diese Mikroläsionen bilden den Reiz für die Entstehung eines Entzündungsprozesses.
Und hier taucht es schon wieder auf, das Immunsystem, als ein System das Entzündungen und Heilungen
hervorbringt. Durch die kleinsten Faserrisse werden Zytokine wie Interleukin-6,
Interleukin-1, Tumor-Nekrose-Faktor und transformierender Wachstumsfaktor-beta
freigesetzt, aber auch Wachstumsfaktoren wie IGF-1 (ein Insulin-ähnlicher
Wachstumsfaktor). Im Muskel entsteht zunächst ein aktives Milieu, das
Immunzellen wie weiße Blutkörperchen (neutrophile Granulozyten, Makrophagen
oder Fresszellen) anlockt. Es sind vor allem die Makrophagen, die durch
Freisetzung hunderter von Start- bzw. Stoppsignalen den Heilungsprozess
koordinieren. Das zerstörte Muskelgewebe wird abgeräumt. Wenn diese Abbauvorgänge
fast abgeschlossen sind, werden überlappend bereits die Aufbauvorgänge
initiiert. Auf dieser Ebene wird deutlich wie eng Stoffwechsel- und Entzündungsprozesse
verknüpft sind. Muskelzellen vermehren sich, wandern zu den Stellen, wo
Fasern repariert werden müssen oder bilden neue Muskelfasern, indem sie
zu einer Faser mit vielen Kernen verschmelzen.
Muskelzellen setzen ebenfalls Mediatoren
wie z. B. Interleukin-6 und IGF-1 frei, die nicht nur den
Entzündungsprozess koordinieren und stoppen, sondern auch das Bindeglied
zum Stoffwechsel bilden. Sie werden von Signalen, die katabole
energieraubende Prozesse beenden, zu Signalen. Die anabole Phase des
Geschehens ist durch eine sehr aktive Proteinsynthese charakterisiert.
Mediatoren wie IGF-1 gehören zu den wichtigsten Katalysatoren der
Eiweißbildung. Von IGF-1 wurde nachgewiesen, dass er zur Vermehrung der
Muskelmasse beiträgt.
Immunsystem: Zünglein an der Waage
Wenn das Immunsystem
durch Krankheit geschwächt ist oder keine Regenerationszeiten
berücksichtigt werden, dann ist auch die Muskelanpassung an ein erhöhtes
Leistungsniveau gefährdet. Ein Heilungsprozess, der nicht abgeschlossen
wird, frisst Energie. Direkte Folge ist einer Beeinträchtigung der
Eiweißbildung für den Muskelfaseraufbau. Der Anpassungsprozess des
Muskels, der ja eigentlich ein Regenerationsprozess ist, wird ebenfalls
nicht abgeschlossen. Damit kann entweder ein diffuser für einen selbst
nicht erklärbarer Leistungseinbruch verbunden sein oder aber eine
gesteigerte Verletzungsanfälligkeit von Muskeln, Bändern und
Sehnen.
Die Leistungsgrenze
wird vom Gehirn gesteuert
Bei Hobbysportlern sind
zum Zeitpunkt der Erschöpfung in der Regel weniger als 30 Prozent aller
vorhandenen Muskelfaser-Motoreinheiten aktiv. Austrainierte Elite-Athleten
rekrutieren einen größeren Anteil ihrer Muskelfaser-Reserve. Das Maximum
übersteigt unter den selben Bedingungen aber offensichtlich dennoch nicht
10 bis 20 Prozent der bei Hobby-Athleten aktivierten Fasern. Es gilt als
äußerst unwahrscheinlich, dass bei einer Ausdauerbelastung über die
Zeitdauer einer Stunde mehr als 50 Prozent der
Muskelfaser-Motorneuronen-Einheiten aktiviert werden. Häufig werden
Belastungseinheiten deshalb abgebrochen, weil die Symptome der Atemnot
unerträglich werden. Es gibt keinerlei Hinweise, dass zum Zeitpunkt des
Leistungsabbruches in irgendeinem Organsystem das Gleichgewicht gefährdet
wäre. Das Muskel-Laktat ist niedrig, die Auswurfleistung des Herzens ist
submaximal und nichts deutet auf eine Unterversorgung des Muskels mit
Sauerstoff hin.
Selbst nach
einer Sprintbelastung ist der pH-Wert des Blutes selten unter 7,1 und der
der Muskeln unter 6,6. Man kann also noch nicht von einem aufgrund von
Stoffwechselabbauprodukten sauren Muskel sprechen. Eine drohende Azidose
(Übersäuerung) des Stoffwechsels wird immer zuerst über die Atmung
kompensiert. Deshalb steigt die Atemfrequenz, Wasserstoffionen, die uns
sauer machen, werden abgeatmet. Die Atemnot und die damit verbundenen
Empfindungen führen zu einem bewussten Abbruch der Belastung und nicht ein
saurer Muskel. Der Gehalt an ATP (Adenosintiphosphat) , einem Maß für die
Energiereserve im Skelettmuskel, unterschreitet unter allen denkbaren
bisher untersuchten Belastungssituationen selten 50 Prozent der Ruhewerte.
Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt wie klein die totalen ATP-Speicher
im gesamten Muskel sind. Das heißt jedoch, dass die ATP-Konzentrationen
unter Belastung eben so streng kontrolliert werden wie in Ruhe.
Was wollen
diese Beispiele sagen? Bedeuten sie nicht, dass sich alle Organsysteme in
einem Zustand des Gleichgewichts (Homeostase) befinden, auch wenn der
Körper einen totalen Erschöpfungszustand erlebt, und dass nicht der Muskel
das Kommando gibt, die Leistung herunterzufahren? Erholt sich ein gut
trainierter Sportler im Ziel deshalb so unglaublich rasch?
Wo ist die
Leistungsgrenze?
Wir sind es gewohnt, den Stoffwechsel und seine
Abfallprodukte für Leistungseinbrüche und Versagen im Wettkampf
verantwortlich zu machen. Unsere Vorstellungen sind dabei von einem Modell
geprägt, das sich gut etabliert hat, obwohl es viele Phänomene, die für
sportliche Leistungen charakteristisch sind, nicht erklären kann. Dieses
periphere Erklärungsmodell führt die Leistungsgrenze hauptsächlich auf
Ereignisse im Muskel zurück. Stoffwechselmetaboliten wie Laktat, der
Anstieg des pH-Wertes im Muskel, freie Radikale, Elektrolytverschiebungen
oder leere Energiespeicher erzeugen einen Erschöpfungszustand, der zum
Leistungseinbruch oder -abbruch führt. Das Modell kann nicht erklären,
warum Spitzenausdauersportler ihr Tempo über die letzten 10 bis 20 Prozent
der Strecke noch erhöhen können. Eigentlich müssten sich die Abbauprodukte
ansammeln und die Leistung abnehmen oder stagnieren.
Das Modell
des Schrittmachers
Erklärbar wird dieses Phänomen mit dem
Schrittmacher-Modell, das den Organismus als komplexes System begreift.
Die Regulierung erfolgt über einen Schrittmacher im zentralen Nervensystem
(ZNS). Dieser „Pacer“ kalkuliert und gibt das Timing für ein Rennen und
die Leistungsgrenze vor. Es werden kontinuierlich alle aus der Peripherie
des Körpers kommenden Signale vom arteriellen Sauerstoffpartialdruck, der
Sauerstoffsättigung des Gewebes, über den Laktatspiegel, bis hin zum
Blutzuckerspiegel verarbeitet und in Echtzeit aktualisiert. Das Ergebnis
der Kalkulation wird in die Periphere gesendet. Alle Körperfunktionen
werden entsprechend angepasst und dem Schrittmacher
zurückgemeldet. Immunsystem, Nervensystem und Hormone nehmen bei der
Verarbeitung der Signale aus der Peripherie eine zentrale Stellung ein.
Sie integrieren den Signalfluss der verschiedensten Ebenen. So erhält der
Schrittmacher kein unsortiertes Signalchaos, sondern ein geordnetes
interpretierbares Signalmuster.
Verblüffende Studien Eine Studie, die die
Kraftentwicklung im Muskel mit den rekrutierten
Muskelfaser-Motorneuronen-Einheiten in Bezug setzte, ergab interessante
Ergebnisse, die dieses neue Modell der Leistungsregulation unterstützen.
Athleten sollten einen Radkurs von 100 km bewältigen. Sie wurden immer
wieder aufgefordert 1 bzw. 4 km-Sprints einzubauen. Obwohl die Athleten
verbal aufgemuntert wurden, nahm ihre Durchschnittsleistung während der
aufeinander folgenden 1km-Sprints kontinuierlich ab. Untersuchungen im
Elektromyogramm ergaben eine Abnahme der rekrutierten Muskelfasern. Dies
geschah, obwohl ohnehin nur 20 Prozent der Fasern aktiv waren. Die
Herzleistung war während der Sprints nahezu ausgereizt. Wahrscheinlich ein
Hinweis dafür, dass die Athleten versuchten die Leistung bewusst zu
erhöhen. Dennoch sank die Anzahl der für die Leistung rekrutierten aktiven
Muskelfasern. Muskelbiopsien ergaben, dass die Kohlenhydratspeicher im
Muskel um 80 Prozent gesunken waren, obwohl immer nur maximal 20 Prozent
der Fasern aktiv waren. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass es zu einer
Modulation der Muskelaktivität kommt, das heißt, das nicht immer die
gleichen Fasern arbeiten müssen. Offensichtlich wird hier über den
Schrittmacher im ZNS gesteuert, welche und wie viele Muskeleinheiten
aktiviert werden.
Eine andere
Studie unterstützt diese Annahmen. In einem Radkurs über die Dauer von 60
Minuten wurden 6 Sprints eingebaut. Bei Sprint 1 bis 5 kam es zu einem
durchschnittlichen Leistungsabfall. Bei Sprint 6 in der letzten Minute vor
Ende des Radkurses konnte bei allen beteiligten Athleten ein Anstieg der
Kraftentwicklung im Muskel gemessen werden. Wäre die Ursache für den
Leistungsabfall eine Entleerung der Kohlenhydratspeicher oder eine
Anhäufung von Stoffwechselprodukten, dann wäre eine Steigerung im letzten
Sprint wohl nicht möglich gewesen. Auch die subjektive Einschätzung des
Erschöpfungsgrades wurde erhoben. Auf einer Skala von 0-20 rangierten die
ersten 5 Sprint trotz der Aufmunterung, das Letzte zu geben, bei 14 und
der letzte bei 18. Das könnte bedeuten, dass das Wissen darum, dass man 60
Minuten würde durchhalten müssen, unbewusst dazu führte, eine Kraftreserve
beizubehalten.
Athleten
können folglich ihre „Pacing-Strategie“ extrem sensibel variieren
(innerhalb eines Wettkampfes und von Wettkampf zu Wettkampf). Das gewählte
Tempo und die eingesetzte Kraft werden im Schrittmacherzentrum berechnet
und bauen Erfahrung, Training und den erwarteten Endpunkt des Wettkampfes
mit ein, aber auch die im Muskel angehäuften Stoffwechselabbauprodukte und
den Zustand der Energiespeicher. Veränderung der Pacing-Strategie bis hin
zum Abbruch des Wettkampfes sind Teil einer komplexen
Regulationsstrategie, die dynamisch erfolgt und letztlich dazu führt,
unter allen Umständen das Überleben zu sichern. Die Wahl der
Schrittmacher-Strategie erfolgt unbewusst und wird ständig überprüft und
dem Input entsprechend neu berechnet. Natürlich wird eine geschwächte
Muskelfunktion ebenfalls berücksichtigt. Das Muster aktiver Muskelfasern
verändert sich je nach Signal-output des Schrittmachers.
Der optimal
eingestellte „Pacer“ gewinnt
Dieses neue Modell kann ein fundamentales Charakteristikum des Leistungssports
beschreiben: Die rasche Anpassung an unterschiedliche Wettkampfsituationen
und den raschen Tempowechsel während Belastungen von ganz unterschiedlicher
Intensität und Dauer. Zudem wird deutlich, wie wichtig Erfahrung ist,
wie bedeutend es ist, Trainingssituationen und Trainingsreize zu verändern
oder welche zentrale Stellung die mentale Komponente der Konzentration
einnimmt, die im Training oft vernachlässigt wird. Fleißig Kilometer sammeln
genügt nicht um zu siegen. Umso optimaler der Pacer eingestellt ist und
sozusagen ahnen kann, was auf ihn zukommt, desto optimaler das Wettkampftiming
und die Siegeschancen. Auch der Pacer sollte bei der Konzeption des Trainings
berücksichtigt werden.